Die Rezipienten- oder Publikumsethik geht davon aus, dass nicht nur diejenigen, die Inhalte erstellen und verbreiten, gewisse moralische Verpflichtungen haben, sondern das dies auch für das Publikum gilt. Wie das?
Zunächst ist die Ethik der Medienschaffenden am verständlichsten und leuchtet intuitiv ein: Das Handeln von Publizisten, Filmemachern und Werbern muss sich an moralischen Kriterien messen lassen. Wahrhaftigkeit ist z.B. so ein Kriterium, an denen sich Journalisten und Blogger orientieren sollen. Die Medienethik beschäftigt sich mit solchen Kriterien: sie versucht sie zu entdecken, untersucht ihren Verpflichtungscharakter und ihre empirische Wirksamkeit, kritisiert gewisse Normen und hilft, neue normative Orientierungen zu begründen und zu implementieren.
Gerade im Web 2.0 gerät wieder verstärkt das Handeln der Rezipienten in den Blick ethischer Reflexion. Das liegt vor allem daran, dass im Web 2.0 Nutzer nicht mehr klar von Produzenten von Information zu unterscheiden sind bzw. beides eng zusammen läuft. Manfred Rühl hat dabei aber schon immer deutlich gemacht, dass Kommunikation, auch öffentliche Kommunikation, als fortschreitender Kreisprozess zu analysieren ist, an dem Produzenten wie Publika gleichermaßen beteiligt sind. In diesem Sinne ist der Hörer oder der Leser immer auch schon Kommunikator, weil ohne sein Zutun ja gar keine Kommunikation vorliegen würde (es sei denn, ein Selbstgespräch eines psychisch gesunden Menschen im einsamen Wald würde als Kommunikation interpretiert werden können können). Hinzu kommt, dass nicht nur die Produktion von Inhalten öffentlicher Kommunikation ein sozialer Prozess (etwa einer Arbeitsorganisation, z.B. Zeitungsredaktion) ist, sondern auch die Rezeption des Publikums in seiner Sozialform analysiert werden kann.
Axel Maireder berichtet heute in seinem Blog über eine Tagung, bei der die “Soziale Verantwortung von Produsern” zum Thema gemacht wurde. Er stellt die Frage, ob der Informationsweitergabe durch Web 2.0 User in Facebook, Twitter usw. nicht auch die gleichen medienethischen Kriterien zu Grunde liegen sollten, wie sie auch für die Produzenten klassischer Medieninhalte gelten. Mit anderen Worten: Muss ich also z.B. jede Information auf Wahrheit prüfen, bevor ich auf “gefällt mir” klicke oder bevor ich die Meldung “retweete”, weil ich dadurch ja in der Tat zu einer Verbreitung dieser Information beitrage? Gute Frage! Ich bin mir im Moment unsicher, ob die rezipientenorientierte medienethische Literatur im obigen Sinne zur Bearbeitung dieser Frage etwas zu sagen hat… Das Heft 1/2009 der Zeitschrift für Kommunikationsökologie und Medienethik zum WEB 2.0 geht in keinem Beitrag direkt auf diese Frage ein.
Axel Maireders Hinweis auf den “Fall Boateng” passt hier natürlich sehr gut… Vgl. dazu vor allem Jan Schmidts Bericht über seine kommunikationssoziologische Beschäftigung mit der Sache. Alles in allem tun sich hier reichliche Bewährungsfelder für die (neue) Medienethik auf.
Literaturliste Publikums- und Rezipientenethik:
- Christians, Clifford G. (1989): Gibt es eine Verantwortung des Publikums? In: Wunden, Wolfgang (Hg.): Medien zwischen Markt und Moral. Beiträge zur Medienethik. Stuttgart: Steinkopf, S. 255–266.
- Funiok, Rüdiger (1996): Grundfragen einer Publikumsethik. In: Funiok, Rüdiger (Hg.): Grundfragen der Kommunikationsethik. Konstanz: UVK, S. 107–122.
- Funiok, Rüdiger (2000): Zwischen empirischer Realität und medienpädagogischer Praxis. Das Publikum als Adressat der Medienethik. In: Rath, Matthias (Hg.): Medienethik und Medienwirkungsforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verl., S. 89–104.
- Funiok, Rüdiger (2007): Medienethik. Verantwortung in der Mediengesellschaft. Stuttgart: Kohlhammer (KON-TEXTE, 8).
- Jansen, Gregor M. (2003): Mensch und Medien. Entwurf einer Ethik der Medienrezeption. Frankfurt a.M.: Peter Lang (Interdisziplinäre Ethik, 30).
- Lübbe, Hermann (1994): Mediennutzungsethik. Medienkonsum als moralische Herausforderung. In: Hoffmann, Hilmar (Hg.): Gestern begann die Zukuft. Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung der Medienvielfalt. Darmstadt, S. 313–318.
- Rühl, Manfred (1990): Moral in der Wissensvermittlung. Anmerkungen zur Diskussionslage in der Kommunikationswissenschaft. In: Ruß-Mohl, S. (Hg.): Wissenschaftsjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit. Tagungsbericht zum 3. Colloquium Wissenschaftsjournalismus vom 4./5. November 1988 in Berlin. Gerlingen: Bleicher (Materialien und Berichte/Robert Bosch Stiftung. 32), S. 153–163.
- Veith, Werner (2002): Ethik der Rezeption. In: Hausmanninger, Thomas; Bohrmann, Thomas (Hg.): Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München: Fink (UTB für Wissenschaft, 8216), S. 277–390.
- Wunden, Wolfgang (1996): Auch das Medienpublikum trägt Verantwortung. In: Funiok, Rüdiger (Hg.): Grundfragen der Kommunikationsethik. Konstanz: UVK, S. 123–132.
One comment
Danke für die interessante Literaturliste, hatte mich bisher nur am Rande mit Medienethik auseinandergesetzt – v.a die rezipientenorientierten Perspektive war mir bisher nur in Ausschnitten bekannt, werd mir das aber sicher mal ansehen. Leider hat sich bisher niemand – wie’s aussieht – intensiver mit der Perpektive auf die „Produser“ auseinandergesetzt, obwohl einzelne, besonder krasse, Fälle immer wieder für Schlagzeilen sorgen.