War die Veröffentlichung der neuen Mohammed-Karikaturen moralisch in Ordnung? Zu den medienethischen Dimensionen der neuen Mohammed-Karikaturen der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ sind zunächst die Kunstfreiheit und die Pressefreiheit zu betonen. Diese Freiheitsrechte sind abgeleitet von der Meinungsfreiheit (bspw. kodifiziert in den Menschenrechten). Die Meinungsfreiheit (mit ihren Realisationsformen) wurde historisch gesehen hart erkämpft und stellt eine fundamentale Norm für die moderne Demokratie und liberal-pluralistische Gesellschaften dar, in denen alle Stimmen gehört und in denen politische Konzepte, Ideen und Vorschläge öffentlich diskutiert werden müssen. Natürlich kollidiert fast jedes Freiheitsrecht mit einem anderen Freiheitsrecht bzw. erfährt von einem anderen Freiheitsrecht her seine Einschränkung. Für diesen Fall sind hier das Diskriminierungsverbot und die Religionsfreiheit einschlägig.
Zwar beziehen sich die Befürworter der Publikation der Karikaturen auf die Meinungsfreiheit, aber man wird den Eindruck nicht los, dass es ihnen gar nicht um dieses Recht und die gute Praxis innerhalb dieses Rechtsrahmens geht, sondern um die Provokation. Gegen einen gedachten oder tatsächlichen Fundamentalismus, sei es einen religiösen oder einen anderen, vorzugehen, gelingt sicher nicht mit einer Provokation. Wenn man tatsächlich für Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit argumentieren möchte, dann doch eher mit Fingerspitzengefühl und Vorsicht.
Es ist also die Attitüde, die stört: In Form eines Experimentes wird Strom an ein Erregungspotential gelegt (und Chefredakteure sind offenbar heute vor allem dann gute Chefredakteure, wenn sie Erregungspotentiale erkennen und damit spielen können, denn ohne diese Fähigkeit kann man da kein Geld verdienen…). Es geht ja einfach: Mohammed-Karikatur produzieren, veröffentlichen, Arme verschränken und zurücklehnen und einen Ich-hab’s-ja-gewusst-Gesichtsausdruck auflegen, wenn die Provokation (wie ja zu erwarten war) gelingt und dann, zuletzt, die Proteste als Angriff auf die Pressefreiheit als den heiligen Gral westlicher Gesellschaften interpretieren – das ist das Manöver und es ist so durchsichtig wie erfolgreich.
Medienethisch ist hier die Antwort zu geben, dass Pressefreiheit natürlich nur einen Freiheitsrahmen vorgibt, der in der konkreten Praxis ausgestaltet werden muss. Und dabei spielt verantwortlicher Respekt vor den religiösen Überzeugungen Anderer eine wichtige Rolle. Diesen moralisch geforderten Respekt mit Absicht fallenzulassen, um eine Debatte über Meinungsfreiheit oder Fundamentalismus zu provozieren, die so nicht gelingen kann, ist medienethisch zu kritisieren.
Literatur (aus einer Fülle):
- Debatin, Bernhard (2006): Die Grenzen der Pressefreiheit? Der Karikaturenstreit als inszenierte Farce. In: Publizistik 51 (2).
- Debatin, Bernhard (2007): Der Karikaturenstreit und die Pressefreiheit. Wert- und Normenkonflikte in der globalen Medienkultur = The cartoon debate and the freedom of the press. Berlin: Lit Verl (Kultur und Technik, 4).
Hinweis/Disclosure: Die Zeilen sind angeregt durch eine Interviewanfrage von Radio Vatikan (Interview am 21.09.2012, 11 Uhr, Update 13:34: Hier ist das Interview). Profitiert habe ich von einem Gespräch mit meinem Freund und Kollegen Daniel Bogner, der die Strom-Metapher eingebracht hat.
One comment
[…] hatte mich Ende September 2012, als Mohammed-Karikaturen in dem Magazin erschienen sind, kritisch aus medienethischer Perspektive geäußert. Dass jetzt in dieser entsetzlich gewalttätigen Weise die Debatte über Meinungs- und […]