Heute bin ich hier (via onlinejournalismus.de) auf den Ausdruck „Ethik 2.0“ gestoßen. Eine zu euphorische Verwendung des Ausdrucks Web 2.0 ist ja sicherlich problematisch. Wie verhält es sich aber mit dem Ausdruck „Ethik 2.0“? Ist Ethik nicht etwas, das keines Updates bedarf, bzw. sogar gegen Updates geschützt werden müsste? Um einer Antwort auf die Spur zu kommen, muss etwas weiter ausgeholt werden:
Ethik ist eine besondere Denkform, nämlich eine reflektierende, eine nachdenkende, eine theoretische Denkform. Ethik ist eine Theorie der Moral.Es gibt natürlich noch andere Ethikverständnisse. Das hier Vorausgesetzte ist aber wohl am verbreitetsten. Moral tritt als der Gegenstand von Ethik auf. Ethik wird notwendig, wenn die Moral selber strittig wird, wenn es also nicht von alleine klar ist, was verbindlich ist, was ein Gut oder ein Wert sein soll und was in Bezug auf Gerechtigkeit und gutes Leben gelten soll. Insofern ist Ethik „Nachdenklichkeit über strittige Moral“, wie das Dietmar Mieth formuliert hat.Mieth, Dietmar (2004): Kleine Ethikschule. Freiburg, Basel, Wien: Herder, S. 24.
Ethik verändert sich also, wenn Moral sich verändert. Von der Wortbedeutung her ist Moral ungefähr gleichsinnig mit dem Begriff der Sitte. Das verweist auf den Umstand, dass die Unterscheidung von gut und schlecht immer etwas mit dem allgemeinen Verständnis davon zu tun hat, was als gut und was als schlecht anzusehen ist. Die Moral, also das, was als ‚das Sittliche‘ begriffen wird, ist immer in Bewegung, wie die Gesellschaft mit ihren Institutionen und Organisationen auch.
Auf der Ebene universal gültiger moralischer Normen erkennen wir zwar sittliche Regeln, die für alle Situationen und Kontexte gelten (sollen). Moralische Konflikte spielen sich aber zumeist in je spezifischen (Alltags-)Situationen und Kontexten ab. Die Menschen erfahren normative Ansprüche an ihr Kommunizieren und Handeln in spezifischen Situationen; ihnen ist die Gestaltung des Lebens und die Bewältigung dieses Projektes konkret aufgegeben. Diese Situationen und Kontexte gilt es ethisch im Blick zu behalten (sonst würde man den ‚Kontakt‘ zum Gegenstand der Ethik verlieren), ohne dass dabei den Situationen und Kontexten eine moralisch begründende Funktion zuerkannt würde (sonst würde man den Ansprüch nicht aufrecht erhalten können, normativ zu argumentieren).
Die vorliegenden ‚Verhältnisse‘, die Lebensumstände, die gesellschaftliche Situation, die „gelebte Moral“Vgl. Eid, Volker (Hg.) (2004): Christlich gelebte Moral. Theologische und anthropologische Beiträge zur theologischen Ethik. Freiburg, Schweiz: Acadamic Press (Studien zur theologischen Ethik, 104). sind/ist also in ein Verhältnis zu bringen zum Gesollten, zum Wünschenswerten, zum Lebensförderlichen. Man könnte die Bestimmung dieses Verhältnisses (von Sein und Sollen) als das eigentliche ethische Projekt verstehen.Vgl. die Seiten 148-155 aus Filipović, Alexander (2007): Öffentliche Kommunikation in der Wissensgesellschaft. Sozialethische Analysen. Bielefeld: W. Bertelsmann (Forum Bildungsethik, 2) und meinen Vortrag bei der Tagung der Societas Ethica 2007 unter dem Titel „Die Kritik an der Unterscheidung von Sein und Sollen im philosophischen Pragmatismus“ (in Vorbereitung, vgl. die Skizze des Vortrags hier).
Wenn statt individueller Praxis eher die Gestaltung von sozialen Verhältnissen, Institutionen und Organisationen zur Debatte steht (wie etwa bei einer Sozialethik des Web 2.0), dann besteht auch hier die Anforderung, normative Vorstellungen und die damit arbeitende Sozialethik selbst im obigen Sinne veränderlich zu halten. So muss (muss!) die Sozialethik z.B. die spezifischen Bedeutungsgehalte von „sozialer Gerechtigkeit“ neuen sozialen Verhältnissen anpassen.Vgl. die Belege und die eigenen Überlegungen dazu in Filipović, Alexander (2007): Beteiligungsgerechtigkeit als (christlich-)sozialethische Antwort auf Probleme moderner Gesellschaften. In: Eckstein, Christiane; Filipović, Alexander; Oostenryck, Klaus (Hg.): Beteiligung, Inklusion, Integration. Sozialethische Konzepte für die moderne Gesellschaft. Münster, Westf.: Aschendorff (Forum Sozialethik, 5), S. 29–40. Wenn Sozialethik wirksam werden will, dann ist nach einer Reformulierung geerbter normativer Vorstellungen zu suchen. Das hat nichts mit einer affirmativen Einstellung gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, sondern ist eine zwingende Einstellung einer Sozialethik, die nicht in einer idealen gedanklichen Parallelwelt unwirksam mit dem bloßen Verweis auf überzeitliche „Werte“ vor sich hin philosophieren möchte. Eine Anpassung überlieferter normativer Vorstellungen an gesellschaftliche Kontexte ist vielmehr die Voraussetzung, normativ argumentieren zu können.
Insofern – und hier komme ich zum Ausdruck „Ethik 2.0“ zurück – ist Ethik updatefähig und -bedürftig. Vor allem da, wo sich ganz neue Verhältnisse und Möglichkeiten ergeben (social software, Bürgerjournalismus), ist die Arbeit am nächsten Release von „Ethik“ sinnvoll und notwendig. Klar sein muss aber, dass das nächste Update sofort wieder fällig sein wird.